Unser Stricker Neodrives im Praxistest von Werner Pohl von RehaTreff, dem Magazin für Menschen mit Mobilitätseinschränkung.
Hinterm Horizont geht's weiter - ein Neodrives Testbericht
Da wo ich wohne, gerät jede Ausfahrt mit einem Handbike zwangsläufig zur Trainingseinheit. Genussradeln sieht anders aus. Weil mir aber genau danach der Sinn stand, musste eine Lösung her. Ein guter Grund, das Stricker Neodrives unter die Lupe zu nehmen.
Lebte ich im Norden unseres Landes, irgendwo knapp hinter den Deichen – dieser Test wäre nie zustande gekommen. Aber ein blindes Schicksal hat mich in den Süden der Republik verschlagen, dorthin, wo die Landschaft nicht platt wie ein Brett, sondern hügelig bis bergig ist. Bevor ich Rollstuhlfahrer wurde, war ich viel mit dem Rennrad unterwegs. Da fand ich die Topographie meiner Wahlheimat noch ganz ok. Hier und da ein knackiger Anstieg, lange Gefälle wo man einfach „laufen lassen konnte“, das sorgte für Abwechslung und dem Kreislauf war es auch förderlich. An Sommerabenden und Wochenenden kamen bei der obligatorischen „Runde um den Block“ rasch mal dreißig bis vierzig Kilometer zusammen. Ziemlich bald, nachdem ich ein neues Leben als Rollstuhlfahrer begonnen hatte, wollte ich an meine früheren Gewohnheiten anknüpfen und wieder radfahren – Handbike natürlich, aber Hauptsache wieder mit eigener Muskelkraft zügig voran. Erst wurde der Rollstuhl um ein Adaptivbike ergänzt, später kam ein Liegebike dazu. Nicht, dass mir das eine wie das andere keinen Spaß gemacht hätte – aber Armmuskeln sind nun mal keine Beinmuskeln. In der Ebene ist ein Liegebike eine feine Sache und einem normalen Fahrrad nicht zuletzt dank seiner windschnittigen Konstruktion ebenbürtig. Am Berg schaut’s anders aus. Ich kam im kleinen Gang zwar auch Zehn-Prozent-Steigungen hoch, aber nur sehr langsam, und Spaß machte die Plackerei nicht. Bei Touren mit Fußgängern zu Rad nervte mich meine Bremsklotzfunktion. Irgendwann setzten meine Handbikes Staub an. Vielleicht hätte ich mir da schon Gedanken über eine Elektrounterstützung am Vorderrad machen sollen, aber andere Dinge rückten ins Blickfeld und das Projekt Radfahren wurde auf Eis gelegt. Das war Jahre, bevor der E-Bike Boom mit Macht die Freizeitgewohnheiten der Menschen änderte. Heute sieht die Sache anders aus. Mittlerweile ziehen schon Fahrräder ohne Motor verwunderte Blicke an und auf dem Adaptivbike-Sektor hat sich auch einiges getan. Spätestens an dem Tag, an dem meine Gattin ein nagelneues E-Bike ihr Eigen nannte, beschloss ich, etwas zu unternehmen. Einem Anruf bei der Firma Stricker folgte der Besuch bei einem Außendienstler des Unternehmens, der mit mir ein paar Proberunden auf verschiedenen Modellen drehte. Zwei Wochen später stand ein sorgfältig an meinen Rollstuhl angepasstes „Neodrives“ bereit.
Rundum praxistauglich
Ich gab es, so viel sei vorab gesagt, am Ende der Testzeit nur ungern wieder her. In zwei Wochen hatte ich mehr Kilometer abgespult als in den zwei Jahren zuvor, wozu freilich perfektes Radwetter einen Beitrag leistete. Aber der Reihe nach. Was ich vom Start weg als Pluspunkt notierte, war die unkomplizierte Art der Montage. Das Bike an den Rollstuhl heranziehen, die beiden Befestigungsklemmen anziehen, hochstemmen, bis die beiden Klammern an den Seiten mit einem hörbaren Klick einrasten – schon kann‘s losgehen. Ähnlich unkompliziert das Abdockmanöver. Eine so unkomplizierte Prozedur ist die Voraussetzung dafür, dass so ein Bike auch mal eben für den Einkauf im Nachbarort oder den spontanen Biergartenbesuch genutzt wird und nicht nur für große Touren. Der von der Albstätter Firma Alber beigesteuerte Neodrives-Nabenmotor arbeitet flüsterleise und tadellos. Seine Unterstützung kann in drei Stufen – Eco, Tour und Boost – abgerufen werden und innerhalb dieser Stufen noch einmal fünffach gestaffelt werden. In Kombination mit einer 24-Gang-Kettenschaltung von Shimano ergibt das eine verwirrende Anzahl von Fahrstufen, von denen nach kurzer Übung ein Bruchteil täglich genutzt wird und dieser Bruchteil langt für sämtliche Fahrsituationen und Geländeprofile. Das kleine Kettenblatt kam bei mir nie zum Einsatz, das mittlere reichte bei moderater Unterstützung schon für Zehn-Prozent-Steigungen. Ich verfüge als Paraplegiker aber auch über uneingeschränkte Armund Handfunktion. Mit dem angebotenen Spektrum an Möglichkeiten dürften auch Tetraplegiker gut zurechtkommen.
Umsicht tut not
Wer verwundert darüber den Kopf schüttelt, dass heutzutage selbst hinfällig wirkende Rentner mit hochgetunten E-Bikes Fahrradwege in Todeszonen verwandeln, der sollte sich auch dem Rollstuhl-Pendant des E-Bikes mit Respekt nähern. Die Kombination aus Stricker-Neodrives und Aktivrollstuhl verfügt über beträchtliches Potential. Die Mühelosigkeit des unterstützten Vortriebs verleitet zu zügiger Fahrweise. Anders als ein herkömmliches Fahrrad hat das Rollstuhl- Bike-Gespann aber eine einigermaßen tückische Fahrgeometrie. Eine etwas zu zügig genommene Kurve hebt das kurveninnere Rad rasch vom Asphalt und dann hilft nur noch beherztes Gegenlenken. Vorausgesetzt, es ist Platz dafür vorhanden. Auch Bremsmanöver folgen eigenen Gesetzen. Zwar ist das Neodrives mit Felgen- und Scheibenbremse, die beide sehr effizient zu Werke gehen, gut gerüstet. Aber es ist eben nur das Vorderrad, das die Verzögerung auf die Straße bringt. Spätestens bei nicht ganz griffigem Fahrbahnbelag und/oder größeren Gefällen kann es zu heiklen Situationen kommen. Dem beugt vorausschauende Fahrweise vor. Und der serienmäßige Bremsassistent, der die Fuhre auf langen Gefällstrecken mit Motorwiderstand im Zaum hält und so außerdem noch Rekuperationsenergie in den Akku einspeist. Bergan die umgekehrte Situation. Kraft ist zwar, E-Unterstützung sei Dank, genug vorhanden. Aber das sorgt schnell für Traktionsprobleme in Form eines durchdrehenden Vorderrades. Umsichtig liefert Stricker deshalb zum Bike zwei Fünf-Kilo-Gewichte, die links und rechts der Radnabe eingerastet werden können. Sie sind ein Pendant zur ebenfalls möglichen Radstandsverlängerung, also der Verlegung der Laufräder des Rollstuhls um ein paar Zentimeter nach hinten. Die Gewichte sind aber praktischer, funktionieren ganz gut und sind schon bei mäßig hügeliger Fahrstrecke ein absolutes Muss. Dennoch fördert spätestens die Kombination aus starker Steigung und losem Untergrund die Grenzen des Systems zutage. Da hilft dann nur alternative Streckenplanung. Ohnehin sind klassische Radfahrertugenden am Berg besonders gefragt. Der Neodrives hat eine Leistung von 250 Watt. Es bringt deshalb gar nichts, mit E-Unterstützung und großem Gang Steigungen bezwingen zu wollen. Vielmehr ist rechtzeitiges Zurückschalten und Bergwärtsfahren im kleinen Gang angesagt, genau so, wie man das auch bei einem Bike ohne Unterstützung praktizieren würde. Es schont zudem die Akkuleistung, wenn an der Kurbel ein pulsbeschleunigender Druck anliegt.
Der Tank ist groß genug
Die mit E-Unterstützung realisierbare Fahrstrecke ist natürlich in hohem Maß von der abgerufenen Unterstützung ab- hängig. Im niedrigsten Modus signalisiert das Display bei vollem Akku eine Reichweite von 120 Kilometern. Die schrumpft bei voller Unterstützung im Tour-Modus rasch auf 30 Kilometer. Diese Werte sind aber ohnehin theoretischer Natur. Wer die abgerufene Unterstützung stets den Erfordernissen anpasst und nicht gerade im Gebirge unterwegs ist, bewältigt Tagesetappen von 60 oder 70 Kilometern, ohne den Stromvorrat völlig aufzubrauchen. Das „Auftanken“ gestaltet sich unkompliziert. Der magnetische Stecker des Ladegerätes findet praktisch automatisch die richtige Position am Stromspeicher. Der ist mit einem Schloss gesichert und leicht abzunehmen, so dass man ihn problemlos auch in der Wohnung oder dem Hotelzimmer aufladen kann.
Durchdachte, solide Konstruktion
Alle Funktionen des Bikes werden über ein Farbdisplay mit drei Bedienknöpfen am linken Griff gesteuert. Die Menüführung ist quasi selbsterklärend, das Display kontraststark, die zur Verfügung gestellten Informationen praxistauglich, da gibt’s nichts zu beanstanden. Das gilt auch für die gesamte Konstruktion und Verarbeitung des Adaptivbikes. Bei den Komponenten aus dem Fahrradbau wie Bremsen und Schaltung wurde nicht gespart. Allerlei Anbauteile wie eine praxistaugliche Ständerkonstruktion, Gepäckträger oder Gepäckkorb und Beleuchtung machen das Fahrzeug alltagstauglich. Die Rahmenkonstruktion ist zwar nicht designpreisverdächtig, aber sie erfüllt zuverlässig ihren Zweck. Vor allem bietet sie viele Einstellmöglichkeiten, so dass mit ein wenig Tüftelei rasch die optimale Arbeitsposition gefunden ist. Freilich – die Kombination aus Vorbau und Rollstuhl plus Fahrer ergibt ein Gefährt, das nur bedingt mit einem „richtigen“ Fahrrad zu vergleichen ist. Unvermeidlich teilen sich dem Nutzer, bedingt durch die Länge des Fahrzeugs und das Spiel, dass selbst bei optimaler Verbindung der Komponenten in der Gesamtkonstruktion nicht ganz zu vermeiden ist, Fahrbahnunebenheiten gnadenlos mit. Manche rustikale Fahrstrecke, die Radfahrer bedenkenlos bei zügigem Tempo passieren können, fahre ich mit dem Neodrives nach der schlag lochärmsten Passage Ausschau haltend mit mäßigem Tempo, um nicht allzusehr durchgeschüttelt zu werden. Glatt asphaltierte Wirtschafts- und Radwege hingegen sind der reine Genuss. Nach zwei Wochen und zweihundert Kilometern habe ich ein Dauergrinsen im Gesicht, wann immer ich mich dem Neodrives nähere. Während ich mir bei meinen nicht E-unterstützten Bikes die Gesamtfahrstrecke immer schon vor der Tour quasi im Kopf eingeteilt hatte, spanne ich dieses Ding einfach vor und fahre los. Wie zu meinen früheren Rennradfahrerzeiten stöbere ich einfach in der Gegend umher, entscheide mich spontan noch für einen kleinen Umweg, und im Handumdrehen ist aus der kleinen Ausfahrt eine 40-Kilometer-Schleife geworden. Ich fühle mich bei der Zieleinfahrt angenehm ausgepowert, aber nicht zu Tode erschöpft. Das ist das Spaßradfahren, das ich lange Zeit vermisst hatte.
Die Freiheit hat ihren Preis
Keine Frage – ich bin auf den Geschmack gekommen. Bleibt zum Schluss die philosophische Frage, warum ich für ein halbes Fahrrad doppelt so viel Geld werde ausgeben müssen wie meine Frau für ein Ganzes. Denn während ein tadelloses Mittelklasse- E-Bike in der Tat für 3000 Euro zu haben ist, muss man für das Neodrives erheblich tiefer in die Tasche greifen - der Preis für die individuelle Kleinserienfertigung. Dass das eine lohnende Investition ist, davon hat mich der Test überzeugt.
Wir danken Herrn Pohl herzlich für den tollen Praxisbericht. Ein Besuch auf der RehaTreff-Homepage lohnt sich, dort finden Sie jede Menge hilfreiche Informationen, Nachrichten und Interessantes aus der Reha-Szene. Klicken Sie hier, um weitere RehaTreff-Artikel zu lesen oder das aktuelle RehaTreff-Magazin zu bestellen. Kleiner Tipp: Ein Probeheft erhalten Sie einmalig kostenlos.